Vom Versorgungsversprechen zum politischen Selbstbedienungsladen
Die Politik beklagt seit Jahren die angeblich „leeren“ Rentenkassen, als wären sie ein Naturereignis oder das Ergebnis überbordender Ansprüche der Rentnerinnen und Rentner. Tatsächlich aber wurde das Rentensystem in der Bundesrepublik über Jahrzehnte nicht primär durch die Leistungen der Versicherten belastet, sondern durch politische Eingriffe, die mit den ursprünglichen Beitragszwecken herzlich wenig zu tun hatten.
Seit der Rentenreform von 1957 bis zum Jahr 2020 wurden nach Berechnungen verschiedener Fachleute und Verbände rund eine Billion Euro zweckentfremdet. Statt die Mittel ausschließlich für Rentenzahlungen einzusetzen, wie es der Sinn der Sozialversicherung wäre, griff der Staat immer wieder in die Kasse. Die Begründungen reichten von versicherungsfremden Leistungen (wie Kindererziehungszeiten oder die Einbeziehung von Personengruppen, die nie in das System eingezahlt hatten) bis hin zu glatten Verschiebungen in andere Haushaltsbereiche.
Allein 2019 sollen es rund 110 Milliarden Euro gewesen sein, 2021 noch einmal knapp 40 Milliarden Euro. Offiziell spricht man von „Bundeszuschüssen“ oder „Ausgleichszahlungen“. In Wahrheit handelt es sich vielfach um politische Manöver, bei denen die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler faktisch für allgemeine Staatsaufgaben herangezogen werden – ein klarer Verstoß gegen das Prinzip der Beitragsäquivalenz.
Das Sozialgesetzbuch VI sieht in § 153 ff. ausdrücklich die Möglichkeit von Bundeszuschüssen vor. Diese dienen jedoch eigentlich der Abfederung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben, die nicht ausschließlich von den Versicherten getragen werden können. Problematisch ist, dass diese Zuschüsse oftmals nicht die Entnahme kompensieren, sondern sie nachträglich legitimieren sollen.
In verfassungsrechtlicher Hinsicht ist das Spannungsverhältnis brisant: Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung betont, dass die gesetzliche Rentenversicherung ein besonderes Vertrauensverhältnis zwischen Beitragszahlern und Staat begründet. Wer jahrzehntelang einzahlt, darf erwarten, dass diese Mittel nicht als „Haushaltsreserve“ missbraucht werden.
Anstatt diese systematischen Eingriffe ehrlich zu benennen, wird die Debatte seit Jahren mit einem anderen Narrativ geführt: Die Rentenversicherung sei angeblich durch den demographischen Wandel in Schieflage geraten, die „Babyboomer“ würden das System ruinieren und die jüngeren Generationen unzumutbar belasten.
Damit wird der Schwarze Peter denjenigen zugeschoben, die das System überhaupt erst aufgebaut und über Jahrzehnte am Laufen gehalten haben. Diese moralische Schuldumkehr ist nicht nur unredlich, sondern politisch höchst bequem: Wer die Schuld auf die Demografie schiebt, muss sich nicht mit den jahrzehntelangen Missgriffen der eigenen Haushaltsführung befassen.
Das Ergebnis ist eine bittere Realität:
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Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben pflichtbewusst eingezahlt.
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Die Politik hat die Kassen für sachfremde Zwecke genutzt.
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Die gleiche Politik mahnt heute „Verantwortung“ und „Solidarität“ an, während sie selbst über Jahre das Vertrauen verspielt hat.
Ein Kanzler, der sich heute mit gesenktem Blick an die Beitragszahler wendet und sie um Verständnis bittet, wirkt damit nicht schuldbewusst, sondern ignorant. Es ist kein Akt von Demut, sondern ein Hohn gegenüber den Millionen Menschen, die auf das Versprechen einer sicheren Altersvorsorge vertraut haben.
Die Krise der Rentenkassen ist nicht das Resultat einer alternden Gesellschaft allein, sondern in hohem Maße die Folge politischer Zweckentfremdung. Wer es ernst meint mit Generationengerechtigkeit und Vertrauen in staatliche Institutionen, muss diese Praxis endlich beenden, klare Trennlinien ziehen und die Rentenversicherung wieder auf ihren Kernauftrag zurückführen: die Absicherung der Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet und eingezahlt haben.
Disclaimer: Dieser Artikel beleuchtet politische Entscheidungen und deren Auswirkungen auf die gesetzliche Rentenversicherung. Er dient ausschließlich der allgemeinen Information und Meinungsäußerung im Sinne von Art. 5 GG. Es handelt sich nicht um Rechtsberatung. Alle Angaben wurden nach bestem Wissen erstellt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Richtigkeit. Genannte Zahlen und Fakten stammen aus öffentlich zugänglichen Quellen. Personen oder einzelne Institutionen werden nicht konkret adressiert.
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