Wie Funktionärsklubs sich selbst abschaffen – und ihre Mitglieder im Regen stehen lassen
Es gibt Momente in der Geschichte, in denen Organisationen ihren ursprünglichen Auftrag verraten. Bei den großen deutschen Gewerkschaften ist dieser Moment längst vorbei. Sie haben ihn nicht nur verschlafen, sie haben ihn feierlich weggelächelt, in Folien gepackt und als „Transformationschance“ verkauft. Was früher Schutzschild und Sprachrohr der Beschäftigten war, ist heute ein politisch verfilzter Tanker, der lieber Ideologie-Pakete ausfährt als Arbeitnehmerinteressen zu vertreten.
Transformation: Das goldene Kalb der Funktionäre
Man kann es nicht anders sagen: Die Gewerkschaften haben sich mit der „Transformation“ einen Götzen geschaffen. Während Belegschaften Angst haben vor Entlassungen, Standortschließungen und Lohndumping, reden Gewerkschaftsfunktionäre von „Aufbruch“, „ökologischer Modernisierung“ und „sozialer Gestaltung“. In diesen Sätzen steckt kein Funken Realität. Es sind Worthülsen, hinter denen sich ein eigenes Versagen versteckt.
Statt die Brechstange rauszuholen und Politik und Arbeitgeber endlich dort zu packen, wo es wehtut, stehen Gewerkschaftsvertreter mit glänzenden Augen in Talkshows und erklären, dass die Deindustrialisierung natürlich „Herausforderungen“ bringt, aber man da „gemeinsam durch müsse“.
Gemeinsam. Ein schönes Wort. Leider meist ohne die Arbeitnehmer.
Die Gewerkschaften kleben an einer Partei, als hätten sie Angst, ohne politisches Patenkind Herzkammerflimmern zu bekommen. Kritische Distanz? Sachliche Kante? Nichts. Stattdessen ein reflexhaftes Abnicken, sobald das politische Lieblingslager ruft.
Und während sich die Funktionärsetagen in parteipolitische Echokammern verabschieden, rutscht die Realität der Arbeitswelt ihnen völlig aus den Händen. Die Lebenswirklichkeit der Mitglieder wird nicht mehr zur Kenntnis genommen, sie stört nur beim Applaus.
Es ist kein Geheimnis, dass viele Beschäftigte heute nur noch aus Tradition Mitglied sind. Wer in Betrieben nah dran ist, spürt die Stimmung: Zweifel, Enttäuschung, Wut. Menschen, die seit Jahrzehnten einzahlen, stellen offen die Frage: Wofür eigentlich?
Die Antwort darauf bleibt die Gewerkschaft schuldig. Weil sie sich nicht mehr an der Basis orientiert, sondern an politischen Narrativen. Und so entsteht eine Distanz, die gefährlicher ist als jeder Tarifkonflikt: Die emotionale Abspaltung der Mitglieder von ihrer eigenen Interessenvertretung.
Ein weiteres Kapitel der Gewerkschaftstragödie heißt Digitalisierung. Während ganze Branchen transformiert werden, während Berufe verschwinden und neue entstehen, während Algorithmen Entscheidungen treffen, die früher Vorgesetzte getroffen hätten, stehen Gewerkschaftsfunktionäre daneben und wirken, als hätten sie den Begriff „Cloud“ wörtlich genommen: flauschig, irrelevant, weit oben am Himmel.
Statt moderne Antworten zu liefern, werden alte Parolen wiederbelebt, die schon vor 20 Jahren abgestanden waren. Digitalisierung wird nicht gestaltet, sie wird kommentiert. Und immer mit dem gleichen reflexhaften Reflex: „Da müssen wir die Politik ins Boot holen.“
Nein. Da müsste man selbst endlich einsteigen.
Die Wahrheit ist bitter, aber notwendig: Wenn sich Gewerkschaften nicht völlig neu aufstellen, werden sie in zehn Jahren ein historischer Fußnotenapparat sein. Nicht verboten, nicht zerschlagen, einfach bedeutungslos. Die Welt wird sich weiterdrehen, die Arbeitswelt wird sich weiter verändern, und Gewerkschaften werden zusehen, wie ihre Mitglieder weggehen.
Nicht aus Bosheit. Sondern weil man keinen Vertreter braucht, der nicht mehr vertreten kann.
Gewerkschaften stehen an einem Scheideweg. Entweder sie besinnen sich radikal auf ihre Kernaufgabe oder sie enden als Ritualorganisationen, die bei Tarifrunden winken, bei politischen Kongressen klatschen und ansonsten wenig bewegen.
Wer ernsthaft glaubt, man könne Zukunft gestalten, indem man politische Freundschaften pflegt und Transformation romantisiert, hat den Bezug zur Arbeitswelt verloren.
Das Urteil fällt hart, aber fair:
Gewerkschaften sterben nicht, weil Arbeitgeber sie schwächen.
Gewerkschaften sterben, weil sie sich selbst längst aufgegeben haben.
Disclaimer: Dieser Text stellt eine persönliche Meinung dar. Er enthält politische Bewertungen und subjektive Einschätzungen. Er erhebt keinen Anspruch auf journalistische Neutralität und dient nicht der Darstellung überprüfbarer Tatsachen, sondern der freien Meinungsäußerung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 GG.
© 2025 Mirko Fuchs
Foto: KI-generiert
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