Geschichte wiederholt sich nicht, aber ihre Warnsignale schon

Politische Härte, moralische Überheblichkeit und die Lehren aus der Vergangenheit

Die Ereignisse rund um die Demonstrationen und Gegenaktionen in Gießen haben eine Diskussion ausgelöst, die weit über den konkreten Anlass hinausreicht. Beobachter berichten von Situationen, in denen Protest nicht mehr die Form des politischen Widerspruchs hatte, sondern die Grenze zur Einschüchterung überschritt. Solche Entwicklungen berühren ein sensibles Thema, das viele Menschen an die Warnungen ihrer Großeltern erinnert: politische Konflikte verlieren ihre demokratische Form, wenn bestimmte Gruppen beginnen, Andersdenkende sozial auszugrenzen oder körperlich zu bedrängen.

Die Generation unserer Großeltern hat erlebt, wohin es führt, wenn politische Überzeugung mit moralischem Absolutismus vermischt wird. Sie erzählten davon, wie schnell eine Gesellschaft anfällig wird für Denkmuster, in denen eine Seite glaubt, allein über die Legitimität politischer Positionen bestimmen zu können. Damals wie heute entsteht ein Klima, in dem Widerspruch nicht mehr als Teil eines pluralistischen Miteinanders gesehen wird, sondern als Gefahr, die bekämpft werden müsse.

Selbstverständlich können die historischen Verhältnisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mit der politischen Gegenwart gleichgesetzt werden. Aber es bleibt ein wiederkehrendes Muster: Wenn die eigene Position als moralisch überlegen betrachtet wird, schwindet die Bereitschaft, andere Sichtweisen auszuhalten. In den Erzählungen der Großeltern war es dieser Verlust von Toleranz und Gelassenheit, der am Ende demokratische Strukturen beschädigte. Heute lässt sich in zugespitzten Situationen wie in Gießen erkennen, dass ähnliche Mechanismen wieder an Einfluss gewinnen.

Die Demokratie lebt davon, dass Konflikte öffentlich und ohne Angst ausgetragen werden können. Doch sie erodiert, wenn Aktivismus, gleich welcher politischer Richtung, meint, das Recht zu haben, den Gegner zu bedrängen oder aus dem öffentlichen Raum zu drängen. Politische Auseinandersetzungen müssen auf Argumenten beruhen. Wo stattdessen Druck, Lautstärke und Einschüchterung dominieren, geraten demokratische Prinzipien ins Rutschen.

Viele Menschen nehmen die Vorgänge in Gießen deshalb nicht als isolierten Zwischenfall wahr, sondern als Mahnung. Nicht weil die Gegenwart die Vergangenheit wiederholt, sondern weil die Strukturen, die unsere Großeltern beschrieben haben, wieder stärker sichtbar werden: moralische Abwertung des Andersdenkenden, aggressive Mobilisierung und der Anspruch, allein im Besitz der Wahrheit zu sein. Solche Entwicklungen gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt und untergraben das Fundament des demokratischen Diskurses.

Demokratie ist widerstandsfähig, aber nicht unverwundbar. Sie braucht ein politisches Klima, in dem auch harte inhaltliche Differenzen ohne Drohkulisse ausgetragen werden können. Genau daran erinnert der Blick zurück. Die Erfahrungen früherer Generationen mahnen, dass gesellschaftliche Eskalationen selten plötzlich entstehen, sondern Schritt für Schritt.

Wer heute „Nie wieder ist jetzt“ ruft, merkt nicht, wie er genau jene Verhärtung und Ausgrenzung verkörpert, die er zu verhindern vorgibt.


Disclaimer: Dieser Text ist eine persönliche politische Einschätzung. Er wertet öffentlich zugängliche Informationen und historische Erfahrungen im Rahmen des durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Rechts auf freie Meinungsäußerung. Er erhebt keinen Anspruch auf vollständige Tatsachenfeststellungen oder historische Gleichsetzungen.

© 2025 Mirko Fuchs
Foto: KI-generiert


 


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