Precht widerspricht dem Konsens und trifft einen wunden Punkt

Die Debatte bei Maybrit Illner verrät mehr über Europa als über Russland

Richard David Precht saß bei Maybrit Illner und hat dort genau das getan, was in deutschen Talkshows inzwischen als Affront gilt. Er hat den Konsens gestört. Nicht durch Provokation, nicht durch Radikalität, sondern durch Fragen, die nicht ins vorgefertigte Drehbuch passen.

Precht sagt nichts Extremes. Er sagt, dass Wunschdenken keine Außenpolitik ersetzt. Dass man einen Krieg nicht dadurch beendet, dass man ihn immer weiter finanziert und gleichzeitig so tut, als gäbe es keinen Preis dafür. Und dass „Putin unter Druck setzen“ eine wohlklingende Floskel ist, deren praktische Wirkung sich seit Jahren gegen null bewegt. Das ist keine Kapitulation, das ist eine nüchterne Bestandsaufnahme der Realität.

Während sich Politiker und eingeladene Experten gegenseitig mit Durchhalteparolen beruhigen, stellt Precht eine einfache, unbequeme Frage. Was ist eigentlich der Plan jenseits von Geld überweisen, Risiken ausblenden und hoffen, dass sich alles irgendwann von selbst erledigt?

Die Reaktion auf diese Frage folgt einem bekannten Muster. Wer den gewohnten Erzählrahmen verlässt, bekommt sofort moralische Motive untergeschoben. Plötzlich geht es nicht mehr um Inhalte, sondern um Gesinnung. Wer Zweifel äußert, will angeblich verstehen, relativieren oder entschuldigen. Diese reflexhafte Moralisierung ist bequem, weil sie Denken ersetzt.

Precht sagt nicht, dass Russland Recht hat. Er sagt, dass Politik sich an Wirklichkeit orientieren muss und nicht an emotionaler Selbstvergewisserung. Abschreckung funktioniert nur, wenn der andere abschreckbar ist. Und ein permanentes Weiter-so verlängert Konflikte, statt sie zu beenden. Wer das bestreitet, müsste erklären, warum Milliarden an Hilfen, Sanktionen und Drohungen bislang genau nicht das Ergebnis geliefert haben, das öffentlich versprochen wurde.

Statt Antworten gibt es das übliche Talkshow-Inventar. Historische Vergleiche, moralische Appelle, Autoritätsargumente. Viel Haltung, wenig Lösung.

Besonders aufschlussreich ist der Widerstand gegen Prechts Hinweis auf Verhandlungen. Diplomatie gilt inzwischen fast als Verrat. Wer sie erwähnt, gerät unter Generalverdacht. Dabei ist Diplomatie kein Geschenk an Russland, sondern eine Pflicht gegenüber der eigenen Bevölkerung. Kriege enden fast immer am Tisch, nicht auf dem Schlachtfeld. Jeder weitere Monat Kampf verschlechtert reale Verhandlungspositionen, egal wie unangenehm diese Erkenntnis ist.

Die Vorstellung, man könne einen Atomstaat wirtschaftlich ruinieren, politisch isolieren und militärisch zermürben, ohne dass es ernsthafte Gegenreaktionen gibt, ist kein Zeichen von Stärke. Es ist Selbsttäuschung mit moralischer Verpackung.

Precht spricht zudem einen Punkt an, der in der Debatte konsequent verdrängt wird. Die Kosten tragen keine abstrakten Haushaltszahlen, sondern reale Volkswirtschaften. Die Risiken tragen nicht Talkshowrunden, sondern Bürger. Und Eskalationsfolgen lassen sich nicht wegmoderieren. Wer hunderte Milliarden zusätzlicher Schulden für folgenlos erklärt, blendet Wirkzusammenhänge aus. Wer glaubt, wirtschaftliche Gegenreaktionen Russlands träfen nur andere, ignoriert globale Abhängigkeiten.

Am Ende bleibt eine unbequeme Wahrheit. Richard David Precht plädiert nicht für Schwäche, sondern für Rationalität. Nicht für Unterwerfung, sondern für Schadensbegrenzung. Nicht für moralische Kapitulation, sondern für politisches Denken jenseits von Parolen.

Dass ihm dafür Arroganz, Naivität oder Realitätsferne vorgeworfen wird, sagt weniger über ihn als über den Zustand der öffentlichen Debatte. In einer Zeit, in der Lautstärke mit Wahrheit verwechselt wird, wird jemand, der ruhig widerspricht, automatisch zum Störfaktor.

Vielleicht nicht, weil er falsch liegt. Sondern weil er einen Punkt trifft, den man lieber nicht diskutieren möchte.


Disclaimer: Dieser Text stellt eine Meinungsäußerung im Rahmen der öffentlichen politischen Debatte dar. Er gibt eine subjektive Bewertung medialer Auftritte und politischer Argumentationsmuster wieder und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder objektive Tatsachenfeststellung. Zitate und Positionen werden sinngemäß und wertend eingeordnet.

Das Titelbild ist eine künstlerische Illustration. Sie stellt keine reale Situation dar und gibt keine tatsächlichen Ereignisse, Aussagen oder Handlungen wieder. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Sendungen oder Situationen sind rein stilistisch bedingt und nicht als Tatsachenbehauptung zu verstehen. Die Darstellung dient ausschließlich der Meinungsäußerung im Rahmen der Kunstfreiheit.

© 2025 Mirko Fuchs
Foto: KI-generiert


 


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